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Kategorie: Blog

Der dritte Teil der Aufsatzreihe widmet sich schließlich der Gerechtigkeit im Schach. Die Aufsätze schrieb ich alle in dem Bestreben, durch eine theoretische Sprechweise eine Bewertungsebene zu finden, von der man aus Probleme im Schach beschreiben und auch objektiv beurteilen kann. In diesem Beitrag werden zwei beispielhafte Schwerpunkte thematisiert. Das eine ist die Entscheidung darüber, ob im Spielbetrieb geraucht werden darf und das andere ist der Götzendienst im Vereinsleben. Um bis dahin zu gelangen, ist es zunächst notwendig, einige Begriffe wie Recht, Unrecht oder Gerechtigkeit zu erklären.

 

 

Bisherige Begriffe

 

 

 


 

2. Der Rechtsraum

 

Das Schachspiel ist ein spezifisches Regelwerk, das nach seiner Inkorporation (Einverleibung, die der Person das Recht auf Leugnung der Regeln verwehrt) allen Partizipierenden ein System von fairen Ausgangsbedingungen schafft, die vor jedem gleichermaßen gerechtfertigt sind. Wer sich nicht an die Regeln im Schach hält, spielt kein Schach. Er ist im Unrecht.

In der basalsten Ebene wäre es somit ungerecht, Leistungen im Schach mit Leistungen im Boxen zu vergleichen, vorausgesetzt, es gehört zu den spezifischen Ausgangsbedingungen, die die Beteiligten akzeptieren, sodass es in einer separaten Disziplin Schachboxen gerecht wäre.

Was bei den jüngsten hin und wieder zu beobachten ist, wenn ein "falscher" Zug gezogen wurde, lässt den Begriff der Gerechtigkeit im Schachspielen relativ deutlich: Da jeder die gleichen und fairen Ausgangsbedingungen akzeptiert hat, ist rechtlich alles in Ordnung, wenn sich niemand einen Wettbewerbsvorteil verschafft, indem er oder sie eben das Regelwerk außer Kraft setzt (Rechtsbruch). Damit verpflichtet sich jeder Schachspieler, die Regeln einzuhalten, anders gesagt: jeder schuldet jedem die Einhaltung des Regelwerks.

Man kann somit den Rechtsraum in drei Bereiche (Urteilsebenen) gliedern:

  1. In die durch das Normsystem bestimmte Sphäre der "Wahrheit", in der man sich befindet, wenn man das tut, was gefordert wird. Man liegt immer richtig, wenn sich die Entscheidungen an das spezifische Normsystem (wie Schachspiel) anschließen.

  2. Durch die Unterscheidung der Spielregeln muss sich das Schachspiel von anderen Spielen abgrenzen, deren Regelwerke sich allesamt im Unrecht befinden. Die Falschheit ist quasi eindeutig eingeschlossen und wird selbstverständlich als solches erkannt (oder systemtheoretisch gesprochen wird die Unterscheidung in sich wiederholt: re-entry)

  3. Der dritte Bereich ist der Interessanteste. Hier gehören alle nicht normierten Fälle, die aber eine Möglichkeit implizieren, wie etwa Notsituationen (Feueralarm) oder eben alle potentiellen Rechtsfälle (Dopingmittel).

 

Wie man sich vorstellen kann, sind die Konfliktfälle nicht immer so eindeutig auf die bloßen Schachregeln fixiert, sondern divergieren, je nachdem um welche Arten des Schachspielens es sich handelt (Einzel/Mannschaft, Blitz/Schnellschach usw.). Ab der nächsthöheren Ebene gelten also zusätzliche Ausgangsbedingungen und Pflichten wie etwa, dass man im Blitzen keinen Aufschlag bekommt, in einer Zweistundenpartie aber eine halbe Stunde nach vierzig Zügen usw. Diese werden quasi aus dem Unbestimmten bestimmt und gelten fortan als Wahrheitskriterien.

Für das Schachspiel können wir somit zwischen so etwas wie Grundrechten (Grundverpflichtungen) unterscheiden - also dass alle SchachspielerInnen das bloße Regelwerk befolgen-, und weiteren, konventionellen Zusatzrechten, die je nach Spielmodi variieren können.

Doch auch hier wird klar, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Das Rechtssystem wird meistens von einem vertraglich (oder mündlich) abgeschlossenen Regelwerk gestützt, das über seine eigenen, aus dem Gebilde stammenden (den ausgebildeten) Schieds-Richter verfügt, die ausschließlich für den bestimmten Rechtsraum rechtskräftige Entscheidungen fällen können. Um dem Unparteilichen die Profitchancen zu verwehren (denn das ergibt sich, wenn ein Mitglied über ein Mitglied urteilt), darf der gleichmütige Richter also keinen Wettbewerbsvorteil legitimieren. Der oberste Grundsatz ist nämlich, dass die Ausgangsbedingungen vor jedem gleichermaßen gerechtfertigt werden können und es die Pflicht von jedem, der an diese Bedingungen glaubt, ist, sie einzuhalten (eine subtile, etwas spekulative Differenzierung wie etwa, dass jeder einen eigenen Richter in sich trägt, der latent die Züge auf Gerechtigkeit prüft, lasse ich außen vor).

 

 


 

3. Die Wahrheitspolitik im Schach

 

Der unbestimmte Rechtsraum, also die Sphäre, in der die Gerechtigkeit noch nicht festgelegt ist und in der es auch keine geben kann, kann unmöglich von einem Schiedsrichter geregelt werden. Der Richter würde in jedem Fall parteilich sein, wenn er über eine Notsituation urteilt, da er es nur mit seinen Wahrheitskriterien machen kann, die nicht dafür gelten. Geht aus irgendwelchen Gründen der Feueralarm los, so kann es keinen Schuldigen im Spiel geben, wenn es abgebrochen wird. Für gewöhnlich sucht man dann nach einer Ausgangssituation, die allen Beteiligten wieder eine faire Situation bietet, die vor allen gerechtfertigt werden kann.

 

Der unbestimmte Rechtsraum ist der Lebensraum von Politikern. Politik, das ist in erster Linie ein Kampf um das soziale Sosein, also was fortan als richtig und falsch, gut und schlecht, gesund und ungesund usw. zu gelten hat. Auch im Schach gibt es Politik und ihre Akteure, die darüber debattieren, wie ihr Markt funktionieren soll.

 

 

 

Beispiel Doping

Soweit ich das von meiner Wahrnehmung aus beschreiben kann, gewann dieses Thema in den letzten Jahren zusehends an Aufmerksamkeit, sodass selbst bei der letzten Deutschen Jugendmeisterschaft dafür geworden wurde.

Was heute noch undenkbar ist, kann über die Interessenarbeit von Marktaufsehern (wie den Funktionären der FIDE) morgen schon "Realität" besitzen. Wenn diese sich darauf einigen, dass Kaffee Doping ist, dann würden theoretisch alle Kaffeetrinker zu einem Wettbewerbsvorteil greifen, wenn sie auf den von FIDE angebotenen Turnieren nebenbei Kaffee trinken würden. Alle KaffeetrinkerInnen wären dort im Unrecht und es wäre nicht gerecht gegenüber den anderen, dass sie Kaffee trinken. Das Beispiel zeigt auch, dass die Bestimmung des Unbestimmten (und damit, was als richtig und falsch zu gelten hat) keine reelle Nachfrage seitens der Schachspieler benötigt, sondern die Reaktion des Marktanbieters (die Institution FIDE) auf ein scheinbares Problem (Doping) ist, womit das bisherige Normsystem nicht fertig wird. Wann beginnt Doping? Der Anbieter möchte daher, fast schon hysterisch, die Qualität seines Produktes (Schach-Olympiade) sichern, ganz gleich, ob die Zielgruppe damit einverstanden ist.

Die Lobbyisten der Anti-Doping-Gruppierung versuchen daher, ihre Wahrheitskriterien in das Rechtssystem zu indoktrinieren. Die Öffentlichkeitsarbeit gehört ebenfalls zum Programm, um bei den Konsumenten ein Bewusstsein darüber zu schaffen, warum Doping ungesund für sie ist (siehe DSJ-Propaganda: "Die Leistung bist Du!").

Politiker sind wichtig. Vor hundert Jahren war Doping im Schach kein Thema. Es benötigt Akteure, die solche Kämpfe untereinander austragen und auf das Unbestimmte und Willkürliche so reagieren, dass die Ausgangsbedingungen weiter fair für alle Betroffenen sind und niemanden einen Nachteil bescheren.

 

 


 

4. Zur Funktion des schlechten Gewissens

 

Da, wo Unrecht begangen wurde, wo also jemand gesetzte Grenzen übertreten hat und den anderen einen Nachteil bescherte, finden sich schuldige Täter. Der Schuldige ist jemand, der das von allen objektiv akzeptierte Regelwerk nicht einhält und damit sein Wort bricht, daher Ver(trags)-brecher. Er lädt sich damit eine Schuld auf, eine Forderung von anderen, die er in der Strafe abbezahlen muss.

Der berühmteste Fall ist das Handyklingeln. Da vor dem Wettkampf sich alle darauf geeinigt haben, die Handys auszuschalten (angeblicher Vorteil/Nachteil), ist der Wortbrecher jemand, der sich nicht an das Verbot hält und sich somit schuldig macht, wenn es denn klingelt. Die Strafe ist eine verlorene Partie (oder zwei...).

Zusätzlich kann sich je nach Habitus ein schlechtes Gewissen einschleichen, das mehr oder minder eine Schuldenfunktion einnimmt, die dem Straftäter die Schulden zuschreibt, womit er sich auch verpflichtet, diese abzubezahlen. Das schlechte Gewissen zeigt sich vielmehr darin, dass wenn der Straftäter der Mannschaft dadurch den Sieg "raubt", sich selbst auch etwas schulden kann, wenn er eine gute Saisonplatzierung von sich forderte. Der Mannschaft blieb er diesen Sieg "schuldig" und könnte somit ein schlechtes Gewissen gegenüber seinen Gläubigern bekommen (z.B. wenn er sich Ziele gesetzt hat). Ein Wortbrecher (auch Ver-sager) kann also durchaus sich selbst bestrafen, wenn er einen Schadensersatz für die verfehlten Ziele geltend macht, indem er das nächste Mal eine Brettherabsetzung für sich fordert oder den Spielbetrieb komplett aufgibt.

Eine solche Einstellung zu einem Rechtfertigungsglauben (die am besten damit beschrieben werden können, dass die Aktivitäten in einer Art Kontokorrentrechnung geführt werden, in der "Erfolge" und "Verluste" symbolisch aufgelistet werden) lehne ich jedoch aus theoretischen Gründen entschieden ab. Eine zweiwertige Logik hält der Wirklichkeit einfach nicht stand.

Es werden laufend zahlreiche Aktivitäten verbucht, die jenseits von gut oder schlecht, richtig oder falsch liegen – die Überraschungen eben, die man erst nach ihrer Verdauung bewerten kann.

Statt ständig an einem schlechten Gewissen zu arbeiten, indem man wie in einem planwirtschaftlichen Vereinsunternehmen Ziele formuliert oder an sich selbst Forderungen stellt, bevorzuge ich alternativ die Arbeit an einem starken Immunsystem (gesunde Moral), das im Falle eines Rechtsbruchs keine Bestrafung sucht (schon gar nicht eine Schuld in sich selbst). Es wäre schlichtweg ungerecht, etwas von sich zu fordern, was einen selbst überrascht.

Wie sieht also die Alternative aus? Das Gegenteil ist das reine Gewissen, dass sich instinktiv nichts zu schulden kommen lässt. Vorausgesetzt, man will für sich den größtmöglichen Profit erwerben, also die größtmögliche Bestätigung der eigenen Person, dass sich die Arbeit gelohnt hat, dann ist es völlig unerheblich, wie gut man Schach spielt. Wer dafür Ziele benötigt, lebt mit einem endogenen Mangel an seiner Person als Schachspieler, der unvollkommen angesehen wird. Man muss sich dies und das vornehmen, dies und das zu sich nehmen – wie ein Drogenabhängiger. Was jedoch nicht vergessen werden darf, ist, dass dahinter immer nur ein Prinzip steht: Es gibt keinen höheren Sinn im Schach als die Gewissheit der Person, dass es sich gelohnt hat, Schach zu spielen.

 

 


 

5. Über die Ungerechtigkeit des Mitleids

 

Die Beurteilung der Konfliktfälle verläuft nicht immer nach einem geordneten Schema, in der die Schuldigen ihre gerechten Strafen bekommen. Ein Störfaktor ist das Mitleid.

Wie es bereits im Begriff feststeht, nämlich Mit und Leid, ist die subjektive Zuneigung eine Art Schöpfung von Schuld(-gefühlen) mit sich selbst.

Spielen zwei Vereinsmitglieder gegeneinander und empfindet einer von beiden das Bedürfnis, dass er dem anderen einen Sieg schuldig ist, kommt es zu einer sogenannten Pflichtenkollision, in der sich meistens die supererogatorische Handlung (jenseits der Pflicht) aus altruistischen Motiven durchsetzt. Die normalen Schachregeln werden gegebenenfalls außer Kraft gesetzt und es entscheidet nicht mehr die Leistung, sondern das Leiden. Weil dieser Mitleidsakt das geltende Rechtssystem ignoriert, ist es für jemand anderes ungerecht. Der geschädigte Dritte kann dann zu Recht die Gerechtigkeitsfrage stellen und wird dann doch nur eine Rechtsbelehrung bekommen. In jedem Fall produziert das Mitleid die Ungerechtigkeit, da nicht mehr die gleichen Regeln für alle im Schach gelten.

 

Bei der Hybridisierung von schlechtem Gewissen und Mitleid kommt es zu den heikelsten Fällen. Kurz gesagt: Jemand anderes verfehlt seine Ziele. Das Mitleid generiert die Schuld des Ver-sagers bei sich selbst. Daraufhin baut sich ein schlechtes Gewissen für etwas auf, wofür man nicht verantwortlich ist.

Gewinnt man gegen jemanden, der sich aber selbst fest vorgenommen hatte, zu gewinnen, und schleicht sich dann das Mitleid ein, so ist es in jedem Fall schädlich für beide. Der Gewinner plagt sich mit Schuldgefühlen herum, die abbezahlt werden müssen. Im schlimmsten Fall ändert es sogar sein Jagdverhalten. Beim nächsten Mal spielt er absichtlich schwächer. Ein anderer leidet und man macht sich selbst schuldig, ihm zu helfen. Mitleid ist nicht unbedingt positiv zu bewerten.

Was ist die Alternative? Anstatt dass sich der Gewinner ent-schuld-igt, sucht man die wahre Niederlage im Moral- und Normsystem von beiden. Die Bewertungsgrundlage ist einfach zu schwach, um für alle Beteiligten die gerechteste Lösung anzubieten. Es ist einfach ungerecht, wenn der Sieger bestraft wird. Auch ist es ungerecht, Überraschungen vor ihrer Verdauung zu beurteilen.

 

Ein weiteres Beispiel zur Ungerechtigkeit des Mitleids findet sich im Vereinswesen. Hier ist der Tatbestand weitaus komplexer, aber mindestens genauso eindeutig.

Mitglied X fordert: "Ich will die Klasse halten!" Im Laufe der Saison macht sich bemerkbar, dass diese Forderung fest zum Bestandteil des Habitus wurde, indem sie wie ein Medikament wirken muss oder anders gesagt: Der Schachspieler ist unvollkommen. Es mangelt an etwas.

Es kommt zum Abstieg. Dadurch entsteht ein Schaden, der beseitigt werden muss. Instinktiv sucht der Erkrankte daraufhin nach einer Ursache für sein Leiden. Entweder in sich selbst oder in den anderen. X glaubt, er sei ein Opfer und es gibt einen Täter.

Mitglied Y und Z bemerken das Leiden und beteiligen sich an seiner Schuld. Es kommt zum Mitleid mit dem Schwachen: "Eigentlich hat er doch Recht." oder "Jedes Mitglied ist wichtig." usw. In einem Wort: Alle drei beteiligen sich an der Selbstkasteiung.

Ist das gerecht? Unter dem Aspekt der Ziel- und Schuldensetzung wäre es theoretisch gerecht, wenn jemand bestraft wird. Das benötigt aber einen ziemlich radikalen Ökonomismus, welcher einfach nicht verstehen kann, dass Zeit ein Geschenk ist, dass erst im Nachhinein einen Rechtfertigungsglauben und somit Nutzen bekommt.

Unter dem Aspekt der Gesundheit, also in einer Betrachtung eines Mitglieds, das sich selbst bestrafen will, wäre es völlig irrsinnig. Strafe führt zu keiner Besserung des Bestraften.

Wenn es keinen höheren Sinn im Schach gibt, als die vollständige Gewissheit, dass es sich gelohnt hat, Schach zu spielen, dann müssen eben auch die unverdaulichen Momente den größten Genuss bereiten. Träume schmecken süß, haben jedoch auch die Gefahr, dass man an ihnen verhungert.

 

 


 

6. Anwendugsbeispiel: Rauchen während des Spielbetriebs

 

Vorausgesetzt man hat das Bisherige gelesen und verstanden, dann sollte die objektive Beuteilung von praktischen Konfliktfällen halbwegs unvoreingenommen geschehen.

So gab es vor einigen Jahren in unserem Verein langatmige Diskussionen über das Rauchen.

 

Kurz gesagt: Es ging darum, ob man während der vereinsinternen Turniere am Spielabend rauchen darf oder nicht. Offensichtlich warf es noch nicht geregelt.

 

Vorgeschichte: Seit der Jahrtausendwende gab es im Jugendbereich eine Explosion, die notwendig dazu führen musste, dass diese Jugendlichen irgendwann auch am Spielabend der Erwachsenen teilnehmen wollten. Das Rauchen hielt sie davon ab.

 

Verlauf: Das Rechtssystem des Vereins war auf die Situation nicht eingestellt. Es lag im Bereich des Unbestimmten, aber des kontingent Möglichen. Insofern war die Debatte eine politische, in der es zu Gruppierungen gekommen ist, die ihre Regeln für alle verbindlich machen wollten.

 

 

 

Wer hat Recht? Zunächst einmal: Niemand, da das (Nicht-)Rauchen gesetzlich nirgendswo verankert war. Der unbestimmte Rechtsraum ist willkürlich.

Traditionen sind Schein-Argumente. Es scheint so, als wäre es geltende Norm, dass geraucht werden darf, "weil man es schon immer so gemacht hat."

Ebenso liefert die Entwicklung keine Aussagekraft darüber, ob sie sich auch im Spielbetrieb der Erwachsenen niederschlägt. Schließlich war die Beteiligung an Vereinsturnieren seitens der Jugendlichen mangelhaft auch trotz Einschränkungen.

 

Eine gerechte Lösung:

Gehen wir zurück zu unserem Ausgangspunkt der Gerechtigkeit, so müssen die Rechte und Pflichten für alle gleichermaßen gelten, sodass sie vor jedem gerechtfertigt werden können.

Eine Vereinsmeisterschaft, in der sich jemand einen Wettbewerbsvorteil verschafft, bietet nicht die gleichen fairen Ausgangsbedingungen für alle. Unser Verständnis von einem Verein besagt aber, dass alle Mitglieder gleichermaßen zum Verein gehören. Trägt der Verein (also die Mitglieder) ein Turnier aus, indem einige Mitglieder a priori benachteiligt werden, dann ist es kein gerechtes Turnier. Es daher völlig unerheblich, wie man persönlich zu dem Thema steht. Als Mitglied muss man dafür sorgen, dass die Rechte und Pflichten jedes Mitglieds gewahrt bleiben. Es gilt die goldene Regel: Was du nicht willst, dass man dir tut, das füge auch keinem anderen zu.

Der Fall ist eindeutig und wurde auch gesetzlich verankert. Während eines Vereinsturniers wird im Turniersaal nicht geraucht, weil einige Vereinsmitglieder einen Nachteil haben, wenn sie etwa vom Rauch gestört werden oder von diesem komplett vom Spielen abgehalten werden. Es ist daher auch moralisch "schlecht", weil es das Leistungsvermögen inhibiert. Selbstverständlich ist auch, dass jeder das Recht einfordern kann, dass ihm kein weiterer Nachteil entsteht – wie etwa, dass es im Turniersaal ruhig zugeht, was ich aber persönlich noch nicht erlebt habe.

Eine Wahrheitspolitik braucht man um solche Evidenzen nicht zu führen. Man hat Unrecht, wenn man einen Nachteil für andere schafft. Und genau hier hüte man sich vor dem Mitleid mit den Ungerechten: Wer sein Unrecht nicht verstehen kann, dessen Position braucht man nicht zu verteidigen. Es wäre schädlich für alle Betroffenen. Eine Rechtbelehrung ist notwendig.

Man muss sich auf solche Ausgangsbedingungen einigen, die niemand als ungerecht empfinden kann. Der Vorrang einer Beurteilung haben dabei immer die basalsten Schachregeln, gefolgt von den Prinzipien des Marktes. Eine Vereinsmeisterschaft impliziert, dass alle Vereinsmitglieder das Recht haben, mitzuspielen.

 

 


 

7. Das Opfer für den Vereinsgott

 

Den Charakter von Zielen habe ich nun oft genug betont. Man nimmt sich etwas vor, dass man erreichen will, ja erreichen soll, damit man anschließend sagen kann: Die harte Arbeit hat sich gelohnt, mein Schach ist etwas wert. Die Schuld mit sich selbst oder mit anderen – die Forderung, die verpflichtet, dass man sie auch erfüllen muss – verfolgt dabei stets ein und dasselbe Prinzip: Es gibt keinen höheren Sinn im Schach als die Gewissheit für die Person, dass es sich gelohnt hat, Schach zu spielen.

Bei der Bilanzierung der Aktivitäten fungieren gescheiterte Ziele dann wie eine Bankrott-Erklärung. Im schlimmsten Fall bestreitet die Person, dass sie als Schachspieler noch einen Nutzen hat. Dann wird das getan, was ein Rechtfertigungsaberglauben verlangt: Der entstandene Schaden muss beseitigt werden. Es gibt noch irgendwo die Schuld, die beglichen werden muss. Sonst geht die Rechnung nicht auf – und das wäre ja ziemlich ungerecht.

Hat also Mitglied X ein Recht auf Schadensersatz durch den Verein? Müssen Mitglieder bestraft werden, um den entstandenen symbolischen Schaden (z.B. Minderung von Stolz) zu beseitigen? Hier sind die vertraglichen Absicherungen entscheidend. Ziele haben in jedem Fall vertraglichen Charakter. Wer Ziele verpasst, wird immer bestraft. Schlechtes Gewissen, aber vor allem die Trauer sind solche lebenshindernde Faktoren.

Haben alle Mitglieder vorher planwirtschaftlicht versichert, dass sie alle dieses gemeinsame Ziel haben, der Verein also ein und dieselbe Sprache spricht, dann wird die Kollektivschuld entweder kollektiv beglichen oder noch eher wahrscheinlicher im Opfer. Ein Schuldiger wird gesucht und gefunden, der dann für alle den Kopf hinhält.

Findet sich X der Situation konfrontiert, dass es für seinen Schaden keine Bestrafung bei den Mitglieder gab, dann wählt er meistens den Weg der Selbstaufopferung – ein Gestus, der in sämtlichen gesellschaftlichen Formationen lange Tradition hat.

Das Opfer ist ein wichtiger Bestandteil des Rechtfertigungsglaubens. Der Glauben an eine Rechtfertigung für die Mitgliedschaft konzipiert eine höhere Macht wie "den" Verein. "Der" Verein hat auf einmal Ziele und normative Grundsätze, ja sogar einen eigenen Willen und seine Priesterschaft, die meint, für den Verein sprechen zu dürfen. Auch wenn man es ungern zugibt, so lässt sich am Verhalten der MitgliederInnen beobachten, dass scheinbar hin und wieder etwas dem Vereinsgott geopfert werden muss, um sich dann wieder mit seinem Gläubiger zu versöhnen.

 

Man wird hoffentlich nachvollziehen können, dass eine Vereinigung von Personen, die alle nur für sich wirtschaften, kein unverbindliches, absolutes Ziel hat. Untereinander werden Kämpfe ausgetragen, was als wahr für den Verein zu gelten hat.

Gerechtigkeit ist ein Konfliktprodukt. Jeder will für sich den größtmöglichen Profit. Der eine will sein Leiden stimulieren, der andere will einfach nur ein reines Gewissen. Und ab hier kann ich mich nur wiederholen: Eine gesunder Organismus fordert eben nicht das ein, was ihm selbst schaden könnte. Er weiß instinktiv, fast schon visionär, wie er zu haushalten hat.

Der Zusammenschluss dient einem egoistischen Profitinteresse. Eine Person, die als Jugendwart nicht mitspielt, profitiert in seiner Funktion. Seine Arbeit mit den Jugendlichen kann sich bei deren Erfolg lohnen. Daraus können wieder normative Grundsätze abgeleitet werden, wie etwa, dass es gerecht wäre, wenn der Jugendbereich finanziell mehr unterstützt wird, weil er nunmal rentabel ist.

 

Um aber der vollkommenen Relativität zu entgehen, wie dass es doch einen Antrieb geben muss, sprach ich öfters von "Gesundheit". Wenn man sich dennoch das Vereins-Wesen vorstellen will als das, was hinter dem Vereinsnamen steht, dann könnte man es als ein Organismus auffassen, der aber nur eine einzige Notwendigkeit hat: die Selbsterhaltung. Es ist kein Ziel, keine pessimistische Sicht auf etwas Unvollkommenes, sondern ein Vertrauen auf die eigene Größe und Stärke, eine Bejahung des Selbst. Eine gute Verdauung verkraftet jede Überraschung und geht daraus noch stärker hervor.

 

Hat also ein Vereinsmitglied Anspruch auf Schadensersatz?

Aus der gesundheitlichen Perspektive heraus: nie und nimmer, weil eine Bestrafung immer ungesund ist. Die Frage geht eher in die Richtung: Wieso muss es ein Bestraften geben? Ließe sich das schlechte Gewissen abschaffen und stattdessen ein reines Gewissen einführen, das sich vor nichts fürchtet? Wieso muss man traurig und unzufrieden sein, an sich selbst oder an den anderen leiden? Ist es denn so schwer zu verstehen, dass es überhaupt keinen Vereinsgott gibt, dessen Plan man erfüllen könnte, indem man Ziele formuliert wie "rumdaddeln" oder "aufsteigen"?

 

Muss ich noch den Unterschied zwischen Schuldentilgung und Schuldenerlass erklären?

Das eine benötigt Schwächlinge, die Gehorsam gegenüber einem Gläubiger leisten und seine Forderungen erfüllen.

Das andere entspringt der Stärke und des Überflusses. Ein Schuldenerlass des Gläubigers ist ein Akt der Gnade und nicht des Mitleids.

Bekanntlich ist letzteres auch das wirksamste Instrument eines Gottes und der hätte sicherlich keine Ziele mehr.