2. Der Rechtsraum
Das Schachspiel ist ein spezifisches Regelwerk, das nach seiner Inkorporation (Einverleibung, die der Person das Recht auf Leugnung der Regeln verwehrt) allen Partizipierenden ein System von fairen Ausgangsbedingungen schafft, die vor jedem gleichermaßen gerechtfertigt sind. Wer sich nicht an die Regeln im Schach hält, spielt kein Schach. Er ist im Unrecht.
In der basalsten Ebene wäre es somit ungerecht, Leistungen im Schach mit Leistungen im Boxen zu vergleichen, vorausgesetzt, es gehört zu den spezifischen Ausgangsbedingungen, die die Beteiligten akzeptieren, sodass es in einer separaten Disziplin Schachboxen gerecht wäre.
Was bei den jüngsten hin und wieder zu beobachten ist, wenn ein "falscher" Zug gezogen wurde, lässt den Begriff der Gerechtigkeit im Schachspielen relativ deutlich: Da jeder die gleichen und fairen Ausgangsbedingungen akzeptiert hat, ist rechtlich alles in Ordnung, wenn sich niemand einen Wettbewerbsvorteil verschafft, indem er oder sie eben das Regelwerk außer Kraft setzt (Rechtsbruch). Damit verpflichtet sich jeder Schachspieler, die Regeln einzuhalten, anders gesagt: jeder schuldet jedem die Einhaltung des Regelwerks.
Man kann somit den Rechtsraum in drei Bereiche (Urteilsebenen) gliedern:
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In die durch das Normsystem bestimmte Sphäre der "Wahrheit", in der man sich befindet, wenn man das tut, was gefordert wird. Man liegt immer richtig, wenn sich die Entscheidungen an das spezifische Normsystem (wie Schachspiel) anschließen.
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Durch die Unterscheidung der Spielregeln muss sich das Schachspiel von anderen Spielen abgrenzen, deren Regelwerke sich allesamt im Unrecht befinden. Die Falschheit ist quasi eindeutig eingeschlossen und wird selbstverständlich als solches erkannt (oder systemtheoretisch gesprochen wird die Unterscheidung in sich wiederholt: re-entry)
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Der dritte Bereich ist der Interessanteste. Hier gehören alle nicht normierten Fälle, die aber eine Möglichkeit implizieren, wie etwa Notsituationen (Feueralarm) oder eben alle potentiellen Rechtsfälle (Dopingmittel).
Wie man sich vorstellen kann, sind die Konfliktfälle nicht immer so eindeutig auf die bloßen Schachregeln fixiert, sondern divergieren, je nachdem um welche Arten des Schachspielens es sich handelt (Einzel/Mannschaft, Blitz/Schnellschach usw.). Ab der nächsthöheren Ebene gelten also zusätzliche Ausgangsbedingungen und Pflichten wie etwa, dass man im Blitzen keinen Aufschlag bekommt, in einer Zweistundenpartie aber eine halbe Stunde nach vierzig Zügen usw. Diese werden quasi aus dem Unbestimmten bestimmt und gelten fortan als Wahrheitskriterien.
Für das Schachspiel können wir somit zwischen so etwas wie Grundrechten (Grundverpflichtungen) unterscheiden - also dass alle SchachspielerInnen das bloße Regelwerk befolgen-, und weiteren, konventionellen Zusatzrechten, die je nach Spielmodi variieren können.
Doch auch hier wird klar, wer im Recht und wer im Unrecht ist. Das Rechtssystem wird meistens von einem vertraglich (oder mündlich) abgeschlossenen Regelwerk gestützt, das über seine eigenen, aus dem Gebilde stammenden (den ausgebildeten) Schieds-Richter verfügt, die ausschließlich für den bestimmten Rechtsraum rechtskräftige Entscheidungen fällen können. Um dem Unparteilichen die Profitchancen zu verwehren (denn das ergibt sich, wenn ein Mitglied über ein Mitglied urteilt), darf der gleichmütige Richter also keinen Wettbewerbsvorteil legitimieren. Der oberste Grundsatz ist nämlich, dass die Ausgangsbedingungen vor jedem gleichermaßen gerechtfertigt werden können und es die Pflicht von jedem, der an diese Bedingungen glaubt, ist, sie einzuhalten (eine subtile, etwas spekulative Differenzierung wie etwa, dass jeder einen eigenen Richter in sich trägt, der latent die Züge auf Gerechtigkeit prüft, lasse ich außen vor).